Frische Brise Ostwind
Kolumne von Kirstin Ihlow
Ich bin ein Landei! Aufgewachsen in einer kleinen Gemeinde im Odenwald. Wenn man auf dem Marktplatz einen Jungen geküsst hat, war es unmöglich schneller Zuhause zu sein, als es den Eltern zugetragen wurde, was ihre Tochter so trieb.
Kaum volljährig geworden, bin ich in den Nachbarort gezogen, dann in eine Kleinstadt, dann in eine Kreisstadt, immer weiter weg von Zuhause. Inzwischen trennen mich fast 600 km von dem Ort, an dem ich meinen ersten Kuss bekommen habe.
Seit 2019 bin ich Calauerin und da stellt sich schon die erste tiefgreifende Frage: darf ich mich als solche bezeichnen, wo ich doch ein Odenwälder Mädel bin? Immerhin ist mein Mann ein echter Calauer und meine Küsse bekomme ich jetzt von ihm.
Meine Eltern sind der Ansicht, ich habe hier meinen Platz gefunden. Ich sei endlich angekommen, was immer das heißen mag. Fakt ist, ich lebe und arbeite in dieser Stadt, in dieser Region und ich bin gerne hier.
Für mich ist Calau wie eine frische Brise Ostwind, die angenehm sanft durch mein Leben weht. Damit das Zuhause meines Mannes und seiner Familie immer mehr zu meinem Zuhause wird, habe ich beschlossen, diese Stadt und ihre Umgebung besser kennenzulernen.
Einmal in der Woche, so habe ich es mir vorgenommen, schenke ich meiner neuen Wahlheimat meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich will mit unvoreingenommen Blick auf alles schauen, was ich wahrnehme, was mir begegnet, was ich erlebe.
Zu diesem Zweck habe ich mir ein Fahrrad gekauft. Um genau zu sein, mein erstes Fahrrad. Für den Calauer schwer vorstellbar. Ich bin als Kind mal Fahrrad gefahren, aber der Odenwald ist nun mal nicht flach und E-Bikes gab es damals noch nicht, also habe ich es sein lassen. Ich konnte inzwischen erfolgreich belegen, dass der Satz „das ist wie Fahrrad fahren, das verlernt man nicht“ schlichtweg gelogen ist.
Einer meiner ersten Ausflüge führte mich die Mloder Straße entlang, am Futtermittelmarkt vorbei durch Wald und Wiese Richtung Saßleben. Nachdem mein Mann auf einen Feldweg abgebogen ist, der um eine Kurve führte, wurde ich so langsam, dass sich der 90 Grad Winkel vom aufrechtem Fahren wie in Zeitlupe auf gänzlich null verringerte. Man kann nicht sagen, ich sei vom Fahrrad gestürzt. Allein der Begriff des Stürzens, der ein schnelles zu Boden gehen impliziert, wäre völlig falsch. Ich bin mit dem Fahrrad zwischen meinen Beinen so zum Liegen gekommen, dass man mich zum Weiterfahren einfach hätte wieder aufrichten können, wenn der Boden mir einen kurzen Schubs in die richtige Richtung versetzt hätte. Die Calauer mögen also bitte gewarnt sein. Wer ein hellgrünes Fahrrad langsam den Radweg entlangschleichen sieht, fahre vorsichtig vorbei, es neigt dazu der Erdanziehungskraft nachzugeben.
Nun bin ich also gespannt, was meine Erkundungstouren ergeben, und sollte ich in einem Anfall von Sentimentalität doch mal meine alte Heimat vermissen, dann greife ich mir einen fremden Mann, küsse ihn auf dem Calauer Marktplatz und warte ab, wie schnell meine Schwiegereltern davon Kenntnis erlangen.
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